Das hätte mir nie, niemals im Leben passieren dürfen! Bettina stand vor dem Spiegel und sah sich an. „Du blöde, leichtsinnige Kuh! Wie konntest du nur! Mit diesem eitlen Egozentriker! Das war Wasser auf seine Mühlen!“ Tränen schimmerten in ihren Augen. Sie durfte sich gar nicht vorstellen, dass Karsten jetzt vielleicht über sie lachte. Eine neue Trophäe in seiner Sammlung – das hatte sie nie werden wollen.

Aber es war passiert. „Und es war schön. Verdammt schön!“ Sie warf das Haar in den Nacken. „Egal. Wir sind erwachsen. Wir hatten unseren Spaß – und vergessen die ganze Sache. Das ist am besten. Für beide.“

Ein sehr guter Vorsatz. Doch leider nicht so einfach zu realisieren. Als sie Karstens Suite verlassen wollte, war er ihr nachgekommen und hatte sie wieder in den Arm nehmen wollen. „Bleib bei mir“, hatte er gesagt. „Ich will jetzt nicht allein sein.“ Das war ihr irgendwie bekannt vorgekommen. Hatte das nicht Richard Gere in „Pretty Woman“ zu Julia Roberts gesagt?

Natürlich war das ein Zufall, hatte gar nichts zu bedeuten. Und doch … irgendwie kamen diese Sätze gar nicht gut. Waren Frustfördernd. Und so war sie ohne ein weiteres Wort in der Morgendämmerung gegangen.

Jetzt stand sie in ihrem eigenen Hotelzimmer, sah sich an – und begann zu heulen. Na, das fehlte gerade noch! Das war wirklich kein Kerl der Welt wert!

Beim Frühstück herrschte heitere Stimmung. Das Team war gut drauf, niemand schien zu merken, dass die junge Fotografin still und in sich gekehrt wirkte.

Kaum hatten sie die Arbeit wieder aufgenommen – diesmal in Kampen, wo Bettina durch Bekannte ein wunderbares Haus als Kulisse hatte mieten können – erschien Karsten.

„Ich wollte mir verabschieden“, sagte er und wirkte höchst gestresst, so dass niemand auch nur den Versuch machte, das Wort an ihn zu richten. „Ihr kommt ja zurecht.“ Keinen Blick hatte er für Bettina. Zumindest nicht, solange er sich beobachtet glaubte.

Bettina zuckte nur mit den Schultern und widmete sich intensiv einer besonders komplizierten Einstellung …

Gegen Mittag zogen wieder Sturmwolken auf, sie verlegten das Shooting ins Haus. Doch wirklich zufrieden war Bettina mit diesen Einstellungen nicht.

„Wir machen Schluss für heute“, erklärte sie. „Ruht euch aus. Oder geht was Gutes essen.“

„Essen!“ Marie-Claire schüttelte lachend den Kopf. „Du weißt doch, dass die Mädchen nur Grünfutter zu sich nehmen.“

„Ist ja gar nicht wahr!“ Carina schüttelte den Kopf. „Du solltest nicht solche Klischees in die Welt setzen, man könnte dir glatt glauben.“

„Wenn man dich so ansieht …“ Marie-Claire lachte. Sie wusste genau, dass Carina über einen außergewöhnlich großen Appetit verfügte. Und viel essen konnte, oder zuzunehmen. Das war allerdings eine Seltenheit, die meisten Models mussten strikt Diät halten.

„Also – Fisch satt für alle. Dazu einen trockenen Chablis … von mir aus kanns auch morgen noch regnen“, meinte Carina.

„Lieber nicht, sonst kommen wir in Verzug. Und kriegen nie wieder einen Auftrag von KORY-Moden.“ Marie-Claire grinste. „Dabei ist der Chef sooo sympathisch!“

„Du bist eine alte Lästermaus“, sagte James – was für Heiterkeit sorgte.

„Es heißt Lästermaul“, korrigierte die Visagistin. „Von mir aus hab ich das. Aber ich hab recht, oder, Bettina?“

Die Fotografin zuckte nur mit den Schultern. „Er ist ein Kunde wie jeder andere“, kommentierte sie.

Das kam nicht gerade glaubwürdig rüber, musste sie zugeben. Und die Mienen der Mädchen sprachen Bände.

James und Bettina waren die letzten, die das Haus verließen. „Nimms nicht so schwer“, tröstete James. „Er wird wiederkommen. Oder ihr seht euch in Hamburg wieder.“ Er zog Bettina an sich und gab ihr einen Kuss. „Ich spürs genau – schon bald kann ich auf deiner Hochzeit tanzen.“

„Du bist ein total verrückter Kerl! Hochzeit – das kommt nie und nimmer für mich in Frage!“

„Sag niemals nie!“

+ + +

„Ich habs ja so satt! Autos. Motoren. Getriebeöl und Reifenabrieb … sag mal, ist in deinem Kopf auch noch Platz für was anderes?“ Wütend ging sie in Tom Archers Hotelzimmer auf und ab.

„Das ist mein Job. Und du weißt, wie wichtig eine perfekte Abstimmung mit den Technikern ist. Seit Wochen lebst du mit mir zusammen – hast du’s immer noch nicht geschnallt?“ Auch Tom zeigte Nerven. Elaine war ebenso anspruchsvoll wie schön, ebenso egoistisch und uneinsichtig wie leidenschaftlich im Bett. Nur … gute Liebhaberinnen gabs viele auf der Welt. Exzellente Techniker und einen guten Rennstall nur wenige. Und so leidenschaftlich sich der Rennfahrer auch in das schöne Model verliebt hatte – er war nicht bereit, wegen Elaines Launen seine Karriere aufs Spiel zu setzen.

„Wenn dir nicht passt, wie ich lebe, und wenn du dich nicht damit abfinden kannst, wie ich mein Geld verdiene, ist es wohl besser, wir trennen uns.“ Er sagte es ganz emotionslos, und auf einmal wurde Elaine klar, dass er nicht umsonst in seinem Metier einer der Großen war. Auf der Rennstrecke war Coolness gefragt, man musste Nerven wie Drahtseile besitzen und eventuell auch mal skrupellos sein. Nur dann spielte man in der ersten Liga mit.

Die schöne Frau presste die Lippen fest aufeinander. Das hatte sie wohl vermasselt. Aber Tom war nicht der einzige Mann auf der Welt. Wenn sie’s recht bedachte, war er sowieso nur eine Notlösung gewesen. Gerade gut genug, um das leicht angekratzte Selbstwertgefühl wieder aufzupolieren, das durch Karsten Korten-Ryhoff leicht gelitten hatte.

Wenn sie an ihn dachte, empfand sie – was höchst selten vorkam – wirkliche Gefühle. Er war der Mann, den sie wollte.

Und sie würde ihn bekommen!

„Wenn du meinst …“ Betont lässig zuckte sie mit den Schultern. „Dann wars das eben. Machs gut – auf der Rennstrecke.“

„Danke. Du auch.“ Er drehte sich einfach um und ging aus dem Zimmer. Es machte ihm ganz offensichtlich gar nichts aus, dass sie ihm den Laufpass gab.

Sie ihm? Oder er ihr? Eine Unverschämtheit! Schon allein dass er die Trennung nicht bedauerte, nicht litt … Was bildete sich dieser schmächtige Rennfahrer eigentlich ein? Elaine griff nach einer Karaffe aus kostbarem Lalique-Glas und schleuderte sie an die Wand. Leider trat sie wenig später mit ihren nackten Füßen in einen der Splitter, was der Laune nicht förderlich war.

„Nur weg hier“, murmelte sie vor sich hin. „Keine Minute länger versaure ich hier.“

Also packen. Einen Flug buchen. Mit der Agentur telefonieren und sich nach neuen Aufträgen erkundigen – und dabei erfahren, dass zwei Kunden ihre Buchungen storniert hatten. Elaine wurde blass vor Zorn.

„Was soll das denn?“, fauchte sie in den Hörer.

Die junge Angestellte in Hamburg zögerte, dann beschloss sie, einfach die Wahrheit zu sagen. Vielleicht brachte die Elaine zur Besinnung. „Du bist einfach zu teuer. Und leider in letzter Zeit nicht mehr zuverlässig. Außerdem … die letzten Fotos … nimm’s mir nicht übel, aber man sah doch recht deutlich die ersten falten. Da musste einiges retouschiert werden.“

„Was fällt dir denn ein? Bist du lebensmüde? Willst du den Job verlieren? Also, das muss ich mir von einem No-name wie dir nicht sagen lassen. Das hat Konsequenzen!“

Nein, es war nicht Elaines Tag. Was immer sie tat – es zog Frust nach sich. Der Flieger war überfüllt, vor ihr saß ein italienisches Ehepaar mit drei Kindern, von denen einem übel wurde. Unglücklicherweise erbrach es sich in Elaines Richtung, ihr Armani-Kostüm wurde beschmutzt. In Hamburg regnete es in Strömen. Und als sie bei KORY-Moden anrief, erfuhr sie, dass er nicht in der Firma sei.

„Verdammt“, zischte Elaine. Sie hatte geplant, ihn einfach zu überraschen. Wo mochte er stecken? Seine Sekretärin, der alte Zerberus, hatte sich nichts entlocken lassen. Blieb also nur der Anruf auf dem Handy. Nein, besser nicht. Wenn er noch sauer war, würde er einfach das Gespräch wegdrücken.

Sie erinnerte sich an den Portier, der von ihr so angetan war. Mit ihrem charmantesten Lächeln fuhr sie eine Stunde später vor Karstens Firma vor und strahlte den alten Mann in der Portiersloge an. „Ich möchte Herrn Korten-Ryhoff überraschen. Wissen Sie, ob er im Haus ist?“

„Das tut mir aber jetzt leid …“ Er schmolz förmlich dahin unter ihrem Blick. „Der Chef ist auf Reisen.“

„Und – wo ist er?“ Sie legte ihm die Hand auf den Arm, schaute ihm in die Augen. „Es … es ist so wichtig für mich. Wir hatten einen kleinen Streit, und den muss ich unbedingt aus der Welt schaffen. Sie wissen doch, Karsten und ich …“ Ihr Blick wurde noch intensiver, ging dem alten Herbert Hansen unter die Haut.

Himmel noch mal, mit so einer Frau mal zusammen sein zu können! Der Karsten, den er noch als kleinen Jungen kannte, war ein Trottel, wenn er die von der Bettkante stieß!

Nach zwei Minuten wusste Elaine, was sie wissen wollte. Und am nächsten Morgen traf sie schon mit dem ersten Zug, der über den Hindenburgdamm fuhr, auf Sylt ein … allerdings nur, um in Karstens Hotel zu erfahren, dass Herr Korten-Ryhoff am Mittag ausgecheckt habe.

„Das kann nicht sein!“ Sie zerrte an ihren Haaren – eine Unart, die sie schon als Kind gehabt hatte. „Sehen Sie doch noch mal nach.“

„Das habe ich. Hier, wenn Sie sich selbst überzeugen wollen – unser Computer irrt nicht. Der Gast hat seine Rechnung beglichen und ist abgereist.“ Der junge Concierge wies auf den Computer, auf dem Elaine allerdings nur lange Zahlenreihe erkennen konnte.

„Sie sind unfähig. Ich warte auf jeden Fall hier auf Herrn Korten-Ryhoff. Daran werden Sie mich nicht hindern.“

„Ganz wie Sie wünschen, gnädige Frau. Möchten Sie ein Zimmer haben? Eine Suite wäre noch frei …“

„Gut. Die nehme ich.“

Der junge Concierge verbiss sich nur mit Mühe das Grinsen, als er Elaine genau die Räume vermietete, die Karsten Korten-Ryhoff vor wenigen Stunden verlassen hatte.

Nein, Elaine glaubte nicht an Karstens Abreise. Der alte Portier hatte glaubwürdig erklärt, der Chef sei zu Fotoaufnahmen nach Sylt gefahren. Und wenn sie der Instinkt nicht trog, dann war auch diese Bettina wieder hier!

Ein paar Stunden schlief Elaine, dann nahm sie einen Saft zu sich, suchte aufgeregt in ihren Koffern nach einem passenden Outfit und beschloss, erst mal ins Go-Gärtchen zu gehen. In diesem bekannten Szenelokal würde sie Karsten bestimmt treffen. Oder in der Sansibar …

Zum türkisfarbenen Seidentop wählte sie einen weit schwingenden schwarzen Seidenrock in Crashoptik. Meergrüne Swarovski-Ohrgehänge, dazu ein Chiffonschal ums Haar … ja, so würde sie auffallen!

Aber erst noch schnell ein wenig Kokain aufs Zahnfleisch. Der Kick würde zwar nicht so gewaltig sein, aber fürs erste garantierte es unbeschwerte gute Laune.

In der Hotelhalle blieb sie abrupt stehen. Das war doch …

„Was machen Sie denn hier?“ Wie die personifizierte Rachegöttin stand sie vor Bettina und James.

„Wir gehen an die Bar. Haben Sie da Bedenken?“ Bettina mühte sich um Gelassenheit, doch James, der ihren Arm festhielt, merkte, dass sie sich verkrampfte.

„Können wir behilflich sein?“, erkundigte er sich betont höflich. „Wenn nicht – wir sind verabredet.“

„Ach ja? Mit wem? Ist Karsten in der Bar?“ Mit einem Ruck drehte sich Elaine um, stürmte quer durch die Halle und sah sich in der Bar um. Nein, hier saßen nur drei Mädchen, die sie unschwer als Kolleginnen erkannte. Aber das waren noch junge, unbekannte Dinger …

Junge und unbekannt … das war sie auch einmal gewesen. Froh über jeden Auftrag, stolz über jede Buchung. Lange war das her.

Zu lange …

Urplötzlich kippte ihre Stimmung. Aus dem Hochgefühl wurde innerhalb weniger Minuten eine tiefe Depression.

Elaine kannte die Anzeichen – schon oft hatte sie dagegen ankämpfen müssen. „Ich bekomme eine Flasche Wodka auf mein Zimmer. Und Tonic-Water.” Damit rauschte sie hinaus, überließ es dem Barkeeper, herauszufinden, wer sie war und welches Zimmer sie bewohnte.

+ + +

Es war lange nach Mitternacht. Draußen klatschte der Regen gegen die Fenster, verwischte die Konturen der großen antiken Laternen, die im Park der Villa Ryhoff standen. Das weitläufige Anwesen hatte einst Karstens Großeltern mütterlicherseits gehört. Seine Eltern hatten die Villa modernisieren lassen. Es war ein Wellness-Bereich angebaut worden und am hinteren Ende, zum Wasser hin, ein kleines Bootshaus, denn sein Vater war leidenschaftlicher Wassersportler gewesen.

Schlaftrunken griff Karsten nach dem Telefon, das ihn mit penetrantem Klingeln aus der ersten Tiefschlafphase gerissen hatte. „Korten-Ryhoff.“

„Du … du Mistkerl! Läufst immer weg, wenn ich dich sehen will… Aber jetzt ist es zu spät. Jetzt kriegst du mich nicht mehr ein. Ich bin schon ganz … ich bin weg …“ Ein Kichern, dann ein tiefer Seufzer.

Im ersten Impuls wollte Karsten auflegen. Scherze dieser Art waren entsetzlich! Dann aber begriff er schlagartig – und setzte sich ruckartig im Bett auf. „Elaine! Elaine, bist du das?“

„Du ahnst ja nicht… keine Ahnung hast du!“ Die Worte waren nur noch undeutlich zu vernehmen. Aber ein Blick aufs Display hatte ihm gezeigt, dass es wirklich Elaine war, die ihn anrief.

„Wo steckst du?“

„Sag ich … nicht …“

„Du hast wieder was genommen! Elaine! Wie oft …“

„Halt doch die Schnauze!“ Sie kicherte albern, um im nächsten Moment wieder einen weinerlichen Tonfall anzuschlagen. „Du liebst mich nicht. Da kannst du auch gar nicht meckern mit mir. Ich bin … ich bin es so leid! Alles ist so ätzend … du auch! Und hier auf der Insel ist nix los … nur dieses Miststück ist da … Ich könnte sie um …“ Ein leises Knacken, dann war das Gespräch zu Ende.

Karsten war beunruhigt. Erst einmal hatte er Elaine völlig betrunken gesehen. Dazu hatte sie irgendwelche Aufputschmittel genommen – ein Cocktail mit fatalen Konsequenzen! Er erinnerte sich nur mit Schaudern an das Horrorszenario, das sich ganz offensichtlich im Kopf des schönen Fotomodells abgespielt hatte. Elaine hatte versucht, über den Balkon ihres Zimmers in den Garten zu gelangen – ungeachtet der Tatsache, dass sie sich in Paris im vierten Stockwerk eines Hotels befanden. Es hatte Stunden gedauert, bis sie wieder klar im Kopf gewesen war.

Und er … er hatte eindringlich auf sie eingeredet. Hatte von Gesundheitsbewusstsein, Verantwortungsgefühl und gar von einem Aufenthalt in einer Drogenklinik gesprochen, denn seiner Meinung nach war Elaine schon süchtig. Sie aber hatte nur gelacht. „So ein Blödsinn! Das bisschen Koks gehört doch dazu! Ich hab das alles im Griff. Aber das Zeug bekämpft den Hunger, macht gute Laune! Tu doch nicht so prüde! Du weißt doch genau, wie so was abläuft!“

Ja, er wusste es. Hatte es schon oft erlebt, dass die Mädchen sich eine Linie zogen, einfach weil sie dem harten Job nicht gewachsen waren – zumindest einige von ihnen hielten diesem Druck nicht stand.

Aber Elaine … er hatte immer geglaubt, sie sei stark, sei souverän und etwas ganz Besonderes.

Und für eine Weile war sie das ja auch für ihn gewesen. Er hatte wochenlang geglaubt, in ihr die Traumfrau schlechthin gefunden zu haben. Na ja, er hatte es sich eingeredet, weil eben Bettina …

Nicht an sie denken! Jetzt war nur Elaine wichtig!

„Ich komme zu dir“, rief er in den Hörer, nachdem er immer und immer wieder ihre Handynummer angewählt hatte, doch stets nur die Mailbox erreichte.

Ob Elaine ihn hörte? Ob er sie rechtzeitig fand? Was hatte sie gesagt? Sie sei auf einer Insel? Und – wen hatte sie getroffen?

„Sie ist auf Sylt!“ Auf einmal wusste er es ganz genau! Mit einem Satz war er aus dem Bett.

Was sollte er tun? Vor dem Morgen kam er nicht nach Sylt, nicht mal mit einem Privatjet.

Während des Duschens fiel ihm ein, wer helfen könnte: Andreas Fabian! „Das ist es!“

Es kostete Zeit und Nerven, die Handynummer des Arztes ausfindig zu machen. Als er endlich Andreas’ verschlafene Stimme hörte, wurde ihm fast schlecht vor Erleichterung.

„Hier ist Karsten Korten-Ryhoff. Jetzt müssen Sie mir helfen“, sagte er. „Es geht um eine gute Freundin von mir – Elaine Marais. Sie ist Model und …“

„Ich kenne Elaine – vom Sehen.“

„Das ist gut. Sie … ich glaube, sie hat zu viel Koks genommen. Oder sonst so ein Zeug. Jedenfalls rief sie eben total verwirrt an. Und ich befürchte …“ Er biss sich auf die Lippen. Es war verdammt schwer, auszusprechen, was er befürchtete.

„Wo ist sie? Hier auf Sylt?“

„Ich denke ja.“ Er nannte das Hotel, in dem auch er abgestiegen war. „Würden Sie sie suchen? Und ihr helfen? Ich bin so schnell wie möglich da.“

„Mach ich. – Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich was weiß.“

Es tat gut, die ruhige, souveräne Stimme des Arztes zu hören. Bestimmt hatte Dr. Fabian in seinem Berufsleben schon viele Krisensituationen gemeistert. Er würde auch jetzt einen kühlen Kopf behalten und genau das tun, was Elaine retten konnte. Karsten entspannte sich ein bisschen. Der Knoten in seinem Magen löste sich.

Und als er vier Stunden später zum Flughafen hinausfuhr, mischte sich in die Sorge um Elaine ein klein wenig Freude darüber, dass er wohl Bettina wieder sehen würde – früher als gedacht.

+ + +

Dr. Andreas Fabian atmete auf! Elaine war wirklich im besten Hotel von Westerland abgestiegen!

„Bitte, versuchen Sie Frau Marais zu erreichen. Es ist immens wichtig!“, hatte Andreas den Nachtportier beschworen. Aber der Mann hatte abgelehnt. „Ich habe meine Kompetenzen schon überschritten, als ich Ihnen am Telefon gesagt habe, dass die Dame unser Gast ist. Mehr kann ich nicht tun.“

„Gut. Dann bin ich in zehn Minuten bei Ihnen.“

„Ganz wie Sie meinen.“ Der Portier fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut. Er ahnte Komplikationen voraus und bedauerte zutiefst, dass der Hoteldirektor für drei Tage in die Hamburger Zentrale beordert worden war. Hoffentlich gab es keine allzu großen Schwierigkeiten!

Aber, sagte er sich, eigentlich hatte er es schon geahnt, dass es zu Trouble kommen würde, als dieses schöne Fotomodell eingecheckt hatte. Fahrig war sie gewesen, mit unnatürlich glänzenden Augen und viel zu blassem Gesicht. Sie hatte sich erkundigt, ob die Minibar aufgefüllt sei – im Grunde war diese Frage eine Unverschämtheit, denn in einem so erstklassigen Hotel wie diesem war eine gut bestückte Minibar eine Selbstverständlichkeit!

Ein älteres Ehepaar kam und verlangte den Zimmerschlüssel. Der sympathische Engländer, der erst gestern angereist war, bestellte ein Taxi zur Sansibar – ein bisschen spät, fand der Portier, sagte aber nichts.

Und dann kam Dr. Andreas Fabian! „Wir haben telefoniert“, erklärte er knapp und hielt dem Portier seinen Ausweis entgegen. „Ich bin Arzt – es geht, wenn ich mich nicht irre, um ein Menschenleben.“

Ich hab’s ja geahnt, dachte der Portier, ließ es sich dann aber nicht nehmen, den Mediziner persönlich zu Elaine Marais’ Zimmer zu führen. Diese Weiber sind doch verrückt, schoss es ihm dabei durch den Kopf. Sie haben alles, wovon andere nur träumen können: Erfolg. Geld. Die Bewunderung vieler Menschen … „Überdruss ist auch ein Fluch“, sagte er aus seinen Überlegungen heraus.

„Einsamkeit auch“, fügte Andreas Fabian hinzu. Er wartete ungeduldig, dass die Zimmertür endlich geöffnet wurde.

Als die edle Mahagonitür dann aufschwang, stürmte er in die Suite. Er sah nichts rechts und nicht links, bis er in einem eleganten Schlafzimmer vor einem kreisrunden Bett stand. Da lag Elaine Marais – hingestreckt in einer Pose, die schon fast lächerlich wirkte. Zum fliederfarbenen Seidennachthemd mit Spaghettiträgern trug sie ein hauchzartes Nichts von Morgenmantel, der raffiniert übers halbe Bett verteilt war. Das blonde Haar bedeckte fast das ganze Kopfkissen.

„Ach du liebe Scheiße“, murmelte der Portier.

„Raus“, befahl Dr. Fabian knapp. „Rufen Sie schnell den Notarztwagen. Suizidversuch.“

„Wie bitte?“

„Selbstmordversuch.“ Während er sprach, hatte er sich schon über Elaine gebeugt und tastete nach ihrem Puls. Er war noch erstaunlich stabil, und auch, als er ihre Pupillen kontrollierte, stellte er fest, dass sie nicht völlig bewusstlos war, doch stark verlangsamte, abgeschwächte Reflexe zeigte. Offenbar hatte sie – bewusst oder unbewusst – eine zu geringe Dosis des Schlafmittels genommen. Die Packung lag noch auf dem Nachttisch, und als Dr. Fabian sie kontrollierte, atmete er erleichtert auf. Selbst wenn das schöne Model 20 Tabletten geschluckt haben sollte – mit diesen Pillen brachte man sich nicht um!

„Keine Sorge“, sagte er zu dem älteren Mann, der gerade die Suite verlassen wollte, „es besteht keine Lebensgefahr.“

Na, wenigstens etwas! Das ersparte dem Hotel den ganz großen Skandal!

Andreas Fabian untersuchte Elaine, stellte fest, dass es ganz offensichtlich ausreichte, wenn er ihr ein Kreislauf stärkendes Mittel injizierte. Oder sollte er ihr den Magen auspumpen? Zur Abschreckung? Ihre Augenlider flatterten, und sofort versuchte er sie aufzurichten.

„Kommen Sie mit ins Bad! Sie müssen das Zeug wieder aus dem Körper kriegen!“, sagte er energisch.

„Lass … lassen Sie mich!“ Sie drehte den Kopf zur Seite.

„Nein! Los jetzt, sonst nimmt der Notarzt Sie mit, man pumpt Ihnen den Magen aus – und dann landen Sie in der Psychiatrie, wie alle Suizidgefährdeten.“

Diesen Schock wollte er Elaine ganz bewusst versetzen.

„Ich … ich will nicht mehr …“

„Was wollen Sie nicht mehr? Nicht mehr leben? Warum nicht? Weil Sie mal nicht das gekriegt haben, was Sie wollten? Oder können Sie den Modelstress nicht mehr ertragen? Dann sollten Sie den Job schmeißen.“ Er sprach mit Absicht so energisch, um sie aus ihrer Lethargie zu reißen.

„So, und jetzt auf!“ Fast gewaltsam führte er sie ins Bad, zwang sie zu erbrechen – was Elaines zarten Körper total erschöpfte. Matt und fast wieder ohne Besinnung hing sie in seinen Armen. Aber der Arzt war unerbittlich. Wenn er ihr helfen wollte, musste er sie zwingen, wach zu bleiben. Und so führte er sie Meter für Meter durch die Räume – bis der Notarzt erschien.

„Ich übernehme“, erklärte er kühl. „Suizidversuch?“

„Ja, aber es war wohl nur Show“, erwiderte Dr. Fabian. „Es tut mir leid, aber wir hätten Sie gar nicht bemühen müssen.“

„Das sehe ich anders.“ Der Kollege bat Elaine, sich zu legen und nahm eine weitere Untersuchung vor. Aber es bestätigte sich rasch, was Dr. Fabian gesagt hatte: Die Tablettendosis war zu gering gewesen, um Elaine wirklich zu gefährden.

„Wir brauchen Sie nicht mal mit in die Klinik zu nehmen“, erklärte der Notarzt. „Da liegen Menschen, die wirklich krank sind und sich nicht aus Langeweile einen Tablettencocktail einwerfen.“ Man merkte mehr als deutlich, dass er für Elaines Kurzschlusshandlung nicht das geringste Verständnis hatte. „Das wird allerdings noch Konsequenzen nach sich ziehen“, meinte er, bevor er Andreas Fabian verabschiedend zunickte und sich mit den beiden Sanitätern, die ihn begleitet hatten, wieder zurückzog.

Elaine lag, diesmal nicht mehr malerisch, auf dem breiten Bett und weinte leise vor sich hin. Auf einmal hatte Andreas Fabian Mitleid mit ihr. Sie war zwar schön und reich, wurde umschwärmt und war sicher einer der Stars der Modeszene – aber tief im Innern war sie einsam.

Behutsam deckte er das Seidenlaken über die dünne Gestalt. „Schlafen Sie. Das ist jetzt am besten.“

„Nicht … bitte nicht gehen!“ Fast flehend sah sie ihn an. „Ich … ich bin doch so unglücklich!“

Andreas seufzte unterdrückt auf. Aber er setzte sich auf den Bettrand und nahm ihre Hände, hielt sie fest. „Was ist denn los?“

„Ich … ich will nicht mehr.“ Elaine schluchzte wieder, und der Mann fragte sich, ob sie sich nun gerade als Schauspielerin versuchte oder wirklich verzweifelt war. Er vermutete letzteres, denn nach dem gewaltsamen Erbrechen der Schlaftabletten, nach all den Aufregungen war sie bestimmt nicht in der Lage, jetzt noch die große Show abzuziehen.

„Ich … ich liebe Karsten. Aber er will mich nicht.“ Wieder ein lautes Aufweinen.

„Man kann niemanden zur Liebe zwingen. Das wissen Sie doch. Aber jetzt müssen Sie schlafen, morgen können wir weiter reden.“

„Versprochen?“ Eine Kinderstimme schien sie auf einmal zu haben.

„Versprochen.“ Noch ein letzter fester Händedruck, dann verließ Dr. Fabian aufseufzend das elegante Zimmer.

+ + +

„Nun sei doch nicht so stur, Bettina!“ Kopfschüttelnd sah James zu der Fotografin hin, die mit starrem Gesichtsausdruck aus dem Zugfenster schaute. Draußen klatschte Regen gegen die Fenster, man konnte von Sylt, das hinter ihnen zurückblieb, gar nichts mehr erkennen. „Dein Karsten ist eifersüchtig, das ist alles.“

„Er ist nicht mein Karsten!“

„Ja, doch. Friss mich nicht gleich.“

Bettina biss sich auf die Lippen. Sie war todtraurig, aber auch wütend und verletzt. Wenn Karsten sie so wenig kannte, so wenig Vertrauen in sie hatte … wie sollte ihre Beziehung dann funktionieren?

„Gib’s auf, James“, bat sie leise, „es hat keinen Sinn. Das hätte ich von Anfang an wissen müssen.“

„Und was wird jetzt?“

„Übermorgen fliege ich nach Dresden.“

„Ein neuer Auftrag?“

„Nein.“ Bettina schüttelte den Kopf. „Das ist meine Therapie zum Vergessen. Ich werde einfach all das fotografieren, was mir in dieser Stadt gefällt. Erst mal nur für mich. Mal sehen, vielleicht kann ich mal was damit machen.“

„Hmm. Soll ich mitkommen? Wie ist dieses Dresden?“

Ein kleines Lächeln glitt über Bettinas Gesicht. „Das ist eine der schönsten Städte Deutschlands. Wundervolle alte Bauten gibt es da, die Oper ist berühmt, der Zwinger …“ Sie erzählte ein wenig von Dresden und seiner Umgebung. „Wenn wir Glück haben, können wir auch in Meißen was machen“, schloss sie. „Dieses Porzellan ist weltbekannt.“

„Davon hatte meine Oma ein paar Figuren“, fiel es James ein. „Sie hat sie gehütet wie ihren Obstapfel.“

„Du meinst wie ihren Augapfel.“

„Stimmt. Irgendeine Frucht war es.“

Diese Interpretation der deutschen Sprache amüsierte Bettina, und zum ersten Mal seit der Auseinandersetzung mit Karsten konnte sie sich wieder entspannen. Natürlich war der Streit höchst albern gewesen, und normalerweise hätte sie sich auch nicht so unversöhnlich gezeigt. Aber er machte ja auch keine Anstalten, sich wieder mit ihr zu treffen. Vielleicht war sie nur eine von seinen vielen Eroberungen gewesen. Eine nicht gerade leicht zu erobernde Festung – aber letztendlich war es ihm gelungen. Mochte der Teufel wissen, mit wem er jetzt seinen Sieg feierte!

Bettina zwang sich, nicht mehr an Karsten zu denken. Und es gelang genau zwei Wochen lang …

Dresden war abwechslungsreich, die Arbeit interessant. James konnte sie zwar nicht begleiten, aber sie kam auch sehr gut allein klar. Immer neue Details entdeckte sie in der Altstadt. Und auch die beiden Ausflüge ins Elbsandsteingebirge wurden mit reizvollen Motiven belohnt.

Nach Dresden kam ein kleiner Auftrag von Verena Trautinger, der Agenturchefin, in Berlin. Dann ein Job für eine renommierte Uhrenmarke in der Schweiz.

Bettina hätte am liebsten rund um die Uhr gearbeitet. Aber wann immer sie auch nur eine Minute Pause hatte, war er in ihren Gedanken wieder präsent: Karsten Korten-Ryhoff!

Was er wohl gerade machte? Mit wem verbrachte er seine Zeit? Sicher wieder mit der schönen Elaine …

Nicht mehr dran denken, befahl sich Bettina. Und konnte doch nicht verhindern, dass der Mann sie bis in ihre Träume verfolgte …

Was Karsten jetzt wohl machte? Ob er inzwischen mit Elaine zusammenlebte? Sie hatte sich vorsichtig in der Branche umgehört, doch keine konkreten Aussagen erhalten. Nur eins war klar: KORY-Moden expandierte immer mehr. Das Geschäft mit den Amerikanern lief hervorragend an, Karstens Firmenpolitik war erfolgreich!

Doch auch Bettina konnte sich im Moment nicht über Arbeitsmangel beklagen. Zwischen Modefotos machte sie Arbeiten für einen Reiseveranstalter, für eine Maschinenfabrik, für eine kleine Reederei, die exklusive Yachten baute. Dieser Auftrag führte sie erst einmal nach Rostock, dann nach Norwegen, wo sie die Gelegenheit nutzte, auf einem der Hurtigruten-Schiffe bis hoch zum Nordkap zu fahren. Gigantische Bilder konnte sie machen, zumal jetzt, im Spätherbst, die ersten Eis- und Schneestürme über das Land fegten. Von dieser Reise verkaufte sie einige Fotos an Reisemagazine, das war, wie sie immer sagte, gut fürs Konto.

Dann, der erste Schneeregen war über Hamburg niedergegangen, kam ein Anruf von James:

„Hast du Lust, in New York mit mir Halloween zu feiern? Und vielleicht noch bis zum Advent zu bleiben?“

„Was hat dich nach New York verschlagen?“

James lachte. „Nicht nur die Liebe, sondern auch das Geschäft. Du erinnerst dich an die Kunstmäzenin Madeleine Carter? Wir haben sie damals auf einer Party getroffen.“

„Ja, klar.“

„Na, Madeleine hat mich in ihr Herz geschlossen, nachdem es mir vor einigen Wochen gelungen ist, ihren heiß geliebten Labrador zu retten. Ein Kampf mit einem Husky … ich bin einfach dazwischen.“

„Ach du liebes Bisschen. Und? Ist dir was passiert?“

„Nur eine kleine Bisswunde im Bein, nichts Schlimmes. Madeleine aber ist mir wahnsinnig dankbar – und vermittelt mir die Bekanntschaft der tollsten Leute.“

„Glückspilz.“

„Bin ich. Und du? Wie sieht es bei dir aus? Hast du Karsten immer noch nicht wieder getroffen?“

„Nein. Und das will ich auch nicht.“ Sie verschwieg, dass Karsten mindestens drei Dutzend mal versucht hatte sie zu treffen, aber sie hatte es immer abgelehnt. So lange, bis er aufgegeben hatte. Die letzte Nachricht, die er ihr auf die Mailbox gesprochen hatte, war traurig und wütend zugleich gewesen:

„Ich weiß zwar immer noch nicht, was du dir alles einbildest – aber ich bin’s jetzt leid, mich lächerlich zu machen. Ich mag dich immer noch sehr, sehr gern, Bettina, doch du kannst und willst mir wohl nicht vertrauen. Schade. Leb wohl.“

„Ich mag dich gern …“ Das war ja wohl das Letzte! War sie ein Hund? Den hatte man gern. Oder den Onkel und die Tante. Aber doch nicht den Menschen, mit dem man eine leidenschaftliche Nacht verbracht hatte, dem man heiße Liebesworte zugeraunt hatte …

New York versprach Ablenkung. Und mit James und seinen Freunden würde sie sich bestimmt hervorragend amüsieren!

Eine lange Halloween-Nacht und fünf Partys später wusste Bettina, dass sie sich geirrt hatte. Natürlich war Big Apple reizvoll wie eh und je. Sie machte Fotos, sah sich die Stadt an, die sich stetig veränderte. Sie traf ein paar nette Leute, ging ins Guggenheim Museum und in die National Galery. Sie fotografierte das, was man von Ground Zero noch sehen konnte und war beeindruckt von der kleinen St. Pauls-Chapel, in der so etwas wie eine Gedenkstädte für die Opfer dieses verheerenden Unglücks entstanden war.

Als sie heimkehrte, war auch in Deutschland alles schon im vorweihnachtlichen Glanz erstrahlt. Die Geschäfte und Straßen waren geschmückt, überall erklangen Weihnachtslieder.

Und dann, mitten im Trubel der Stadt, sah sie ihn: Karsten ging, den Kragen des Ledermantels hochgeschlagen, in ein Geschäft.

Im ersten Impuls wollte ihm Bettina folgen, aber dann sah sie, welchen Laden er aufsuchte – eine Kindermoden-Boutique! Und gerade kam Elaine aus dem Laden. Sie lächelte Karsten an und hielt einen kleinen Strampelanzug hoch.

So war das also! Er wurde Vater!

Gratuliere, Elaine, dachte Bettina bitter. Du hast es ganz offensichtlich geschafft. Wohl mit dem ältesten Trick der Welt, aber du hast es geschafft.

Zum Glück fing es gerade an zu regnen. Die Tropfen vom Himmel vermischten sich mit Bettinas Tränen.

+ + +

Als Karsten Korten-Ryhoff auf Sylt ankam, um sich um Elaine zu kümmern, war er zunächst wütend auf das Model. Ich lasse mich nicht von ihr erpressen, dachte er, als er sie in ihrem Hotelzimmer aufsuchte. Aber dann, als sie so elend und verzweifelt vor ihm lag, bekam er Mitleid.

„Ich … ich weiß nicht, was mit mir los war“, gestand Elaine. „Ich … ich war auf einmal so verzweifelt. Und so allein …“

„Du hattest bestimmt wieder was getrunken. Und dazu auch noch dieses Teufelszeug genommen. Stimmt’s?“ Er musste sich zu der Strenge zwingen, aber ihm war klar, dass er Elaine nur helfen konnte, wenn er hart blieb und sie zu einem Entzug zwang.

„Du weißt doch, wie das ist …“ Ihre Stimme klang weinerlich.

„Ja, ich weiß es. Und du weißt, wie falsch es ist, das Zeug immer wieder zu konsumieren. Es macht dich kaputt. Sieh das doch endlich ein!“

„Dann hilf mir!“ Sie hatte ihm die Hände entgegengestreckt und ihn mit tränenfeuchten Augen angesehen.

Karsten hatte keine Chance – er verzieh ihr. Er kümmerte sich um sie. Er besorgte ihr den besten Therapeuten, eine diskrete Klinik – und er sorgte dafür, dass sie wieder gute Engagements bekam, als sie clean und fit nach sechs Wochen entlassen wurde.

Elaine hingegen, schöner denn je, verbarg gekonnt ihren Triumph. Sie hatte zwar im Alkoholrausch viel zu viele von den Schlaftabletten genommen, aber letztendlich doch nicht so viele, als dass man sie nicht rechtzeitig hätte „retten“ können.

Ihr Plan – ebenso simpel wie schon tausendmal vorher ausgeführt – hatte funktioniert: Karsten fühlte sich für sie verantwortlich. Er war voller Schuldgefühle und tat alles, um ihr zu helfen.

Mitleid ist keine Liebe, das machte sich das schöne Model immer wieder klar. Aber dieses Mitleid band Karsten an sie. Und sie würde alles tun, dass die Fessel fester und fester wurde.

Nachdem sie die Suchtklinik in der Schweiz wieder verlassen hatte, sorgte Karsten dafür, dass sie sehr gute Aufträge bekam. Zunächst für KORY-Moden, dann für einen Designer, der sich auf Pelze spezialisiert hatte. Dann kamen Jobs in Spanien, Italien, sogar in Norwegen und Schweden. Hier kam die zarte Blondine besonders gut an.

Weihnachten verbrachten sie zusammen – wie gute Freunde. Das jedenfalls schrieb Karsten auf seiner Einladung.

Elaine grinste. „Meinetwegen. Seien wir Freunde! Irgendwann wird wieder mehr draus.“

Das Fest, das der Chef von KORY-Moden ausrichtete, wurde in seiner Villa gefeiert. Eine Catering-Firma sorgte dafür, dass es weder an Delikatessen noch an Getränken fehlte. Die große Halle war festlich geschmückt, die Nordmann-Tanne in der Mitte des Raumes glänzte in Gold und Rot-Tönen.

Es war eine rauschende Party. Alle amüsierten und unterhielten sich. Bis auf Karsten. Er ging von Tisch zu Tisch, plauderte mit allen Gästen – und fühlte sich doch einsam.

Nein, das war nicht das Weihnachtsfest, das er sich vorstellte. Besinnlich sollte es sein. Wärme ausstrahlen. Geborgenheit und Frieden.

Und wieder dachte er an Bettina. Was mochte sie jetzt tun? Wo feierte sie den Heiligen Abend? Mit diesem James, der so verdammt gut aussah? War sie bei ihm in den Staaten? Oder gab es inzwischen einen anderen Mann an ihrer Seite?

Verdammt, er würde was drum geben, das zu wissen!

Er hörte Elaines helles Lachen. Sie hatte zu viel getrunken. Wieder mal. Bitterkeit erfüllte ihn. Da hatte er alles versucht, um ihr zu helfen, um ihr neuen Halt zu geben – doch sie war schon fast wieder im alten Fahrwasser, das hatte er in den letzten Tagen deutlich erkennen müssen.

Kurz sah er zu Annette Berger und Dr. Andreas Fabian hin. Die beiden waren gekommen, obwohl sie bestimmt lieber allein ihr erstes gemeinsames Weihnachten gefeiert hätten. Das rechnete er vor allem seiner Mitarbeiterin hoch an. Bis vor einigen Wochen war Annette noch krank gewesen. Die Folgen des Verkehrsunfalls hatten Spuren hinterlassen. Sie war blass, noch zarter. Schutzbedürftiger. Es war ein Segen, dass sie den richtigen Partner an ihrer Seite hatte.

Wieder wurde seine Aufmerksamkeit von Elaine beansprucht. Sie lachte viel zu laut. Trank zu viel. Und jetzt knutschte sie ganz hemmungslos mit einem jungen Designer, der ihr ungeniert den Seidenrock hochhob.

Karsten wandte sich ab. Als er an Annette und Andreas vorbeiging, raunte ihm seine Direktrice zu: „Du solltest Elaine aus dem Verkehr ziehen. Sie ist mal wieder vollgepumpt.“

„Sie wird nicht schlau. Will sie wirklich von einem Entzug zum anderen gehen?“ Dr. Fabian trank sein Glas leer. „Sie entschuldigen uns, Karsten, ja? Aber ich hab mir den Heiligen Abend ein bisschen anders vorgestellt.“

„Natürlich. Es tut mir sehr leid.“ Er begleitete die beiden zur Tür, atmete draußen tief die kalte Nachtluft ein. Als er die Kirchenglocken hörte, bereute er es, diese Party arrangiert zu haben. Wer kam schon – doch nur Leute, die einsam waren. Für die Weihnachten nichts anderes bedeutete als ein paar freie Tage, Grund, eine Fete zu feiern … Karsten wünschte sich in diesem Moment die Weihnachtstage seiner Kindheit zurück. Ein bunt geschmückter Baum. Viele kleine Päckchen darunter. Seine Mutter am Klavier, sie spielte die altvertrauten Weihnachtslieder. Sein Vater las das Weihnachtsevangelium vor … Nein, nicht sentimental werden jetzt! Er hatte Pflichten als Gastgeber!

Langsam schloss er die Haustür, ging zurück zu seinen Gästen, die sich blendend zu amüsieren schienen. Vom Zauber des Heiligen Abends war allerdings nichts zu spüren.

Karsten hielt es genau noch eine halbe Stunde aus. Dann ging er in die Küche, wo seine Wirtschafterin die Angestellten des Catering-Service beaufsichtigte. Bei ihr stand Karin Habermann. Seine Sekretärin und Vertraute runzelte leicht die Stirn. „Stimmt was nicht?“

„Mit der Party?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich denke, dass sich alle gut amüsieren. Aber ich bin kurz mal weg“, sagte er. Und als sie ihn fragend anschaute, meinte er: „Ich brauche frische Luft, machen Sie sich keine Sorgen. Bin bald wieder da.“

„Das sind die Geister, die er selbst gerufen hat“, meinte Karin Habermann.

„Er denkt immer noch an diese Fotografin.“

„Ja, die hätte zu ihm gepasst. Aber sie war ihm wohl nicht verrückt genug. Er muss sich ja wieder mit dieser Elaine abgeben.“

„Ich weiß nicht …“ Die Haushälterin gestattete sich ein kleines Lächeln. „Wenn Sie mich fragen … ich bin sicher, dass er jetzt auf dem Weg zu Bettina Gehrmann ist.“

+ + +

Die kleine Blautanne stand neben dem großen Fenster, das den Ausblick auf die weihnachtlich geschmückte Stadt gestattete. Die gelben Bienenwachskerzen verbreiteten einen sanften Schimmer, ihr Duft vermischte sich mit dem der Lebkuchenplätzchen und Zimtsterne – Gebäck, das für Bettina unbedingt zum Weihnachtsfest dazu gehörte. So wie ein Baum – geputzt mit den alten Glaskugeln ihrer Großmutter.

Bettina, die erst vor einer knappen Woche aus den USA zurückgekehrt war, hatte es sich auf der Couch gemütlich gemacht. Ein paar Delikatessen – fertig gekauft natürlich – dazu ein oder zwei Gläser Rotwein. Fernsehberieselung aus Langeweile. Allzu feierlich war ihr Weihnachten nicht.

Es ging schon auf halb elf am Heiligen Abend, als es kurz an ihrer Tür klingelte. Im ersten Impuls wollte sie gar nicht öffnen, doch dann sagte sie sich, dass es wohl doch noch Kim war. Ihre Halbschwester war mal wieder im Land und hatte es offen gelassen, ob sie mit Bettina oder mit ihrer Freundesclique zusammen feiern wollte.

Besser spät als gar nicht, dachte Bettina und ging zur Tür – um im nächsten Moment zurückzuprallen.

„Ich bin kein Gespenst.“ Karsten lächelte ein bisschen schief. „Darf ich reinkommen?“

Sie machte nur eine vage Handbewegung. Kein Wort hätte sie jetzt herausgebracht. Viel zu verwirrt war sie.

„Ich … ich … Frohe Weihnachten.“ Ganz dicht stand Karsten vor ihr. Seine Augen schienen zu brennen. Und dann …

Nichts mehr. Keine Einsamkeit. Keine unerfüllte Sehnsucht. Keine Wut. Keine Eifersucht. Nur noch ihn. Seine Hände, die sie umfassten. Seine Lippen auf ihren.

„Jetzt glaub ich wirklich an Weihnachtswunder“, flüsterte Bettina.

„Und ich erst! Ich hab ja solche Angst gehabt, dass du mir nicht aufmachst. Oder mich gleich wieder wegschickst …“

„Ich hab Kim erwartet.“

„Kim? Wer ist das?“

„Meine Schwester. Halbschwester, genauer gesagt. Wir sehen uns nur sporadisch, aber jetzt ist sie in der Stadt.“

„Und warum feiert ihr nicht zusammen?“

„Sie ist wohl bei Freunden.“ Bettina lächelte und zog ihn mit sich ins Wohnzimmer. „Ich sollte ihr dankbar sein, dass sie so wenig Familiensinn zeigt.“

„Stimmt.“ Karsten zog sie auf seinen Schoß. „Ich würde dich jetzt nur ungern teilen.“

Bettina erwiderte nichts, aber sie dachte, dass sie ihn immer wieder hatte teilen müssen. Mit der Firma, mit Elaine … und wer weiß mit wie vielen anderen.

„Was denkst du?“ Er gab ihr einen übermütigen Kuss auf die Nase.

„Ach, nichts.“

„Nichts? Dazu passt die Falte zwischen der Nasenwurzel nicht. Die muss weg.“ Und schon nahm er ihr Gesicht in die Hände, küsste jeden Millimeter, vor allem die Stelle, wo die imaginäre „Falte“ sein sollte.

Es war, als wären sie nie voneinander getrennt gewesen. Ihre Körper schienen sich genau zu erinnern. Jeder wusste genau, was der andere wollte, was er zur perfekten Erfüllung brauchte.

Karsten vergaß, dass daheim in seiner Villa Gäste auf ihn warteten. Er vergaß Elaine und auch, dass Weihnachten war. Was wichtig war, war Bettina. Sie hielt er in den Armen – und damit das wahre Glück.

Es wurde draußen schon hell, als sie wieder klar bei Besinnung waren. Bettina lag in Karstens Arm, ihr Kopf an seiner Brust. Sie waren müde, erschöpft, aber glücklich.

„So kann man also auch Weihnachten feiern“, murmelte Bettina.

„Ein bisschen ungewöhnlich, aber wunderschön. Und romantisch.“ Karsten drehte sich ein bisschen, damit er ihr in die Augen sehen konnte. „Weihnachten ist noch nicht vorbei …“

„Stimmt …“ Sie rollte sich zusammen wie eine Katze. „Aber jetzt muss ich ein bisschen schlafen. Bleibst du zum Frühstück?“

„Natürlich. Hast du vergessen – Weihnachten dauert noch an.“

„Noch zwei Tage.“

„Wenn du willst, eine ganze Ewigkeit.“

Bettina erwiderte nichts mehr. Sie war zu müde. Und viel zu glücklich, um jetzt noch irgendwelche Einwände zu machen.

Am nächsten Morgen erwachte sie von leisem Schnarchen. Lächelnd sah sie zu Karsten hin, der sich auf die Seite gerollt hatte und diese Töne von sich gab.

„Nicht gerade romantisch“, murmelte sie, beugte sich über ihn und wollte ihn gerade mit einem Kuss wecken, als ihr plötzlich etwas einfiel: Karsten und Elaine in einem Kindermoden-Geschäft! Lachend und sichtlich glücklich Elaine, die ihm ein Strampelhöschen zeigte … Wie hatte sie das vergessen können?

Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Sah auf den schlafenden Mann, auf die Flasche Champagner und die beiden Gläser neben dem Bett – und wurde noch ein bisschen wütender. Und verlegener. Wie hatte sie sich so überrumpeln lassen können! Da kam er, schmuste ihr was vor, und sie … sie blöde Gans ließ sich gleich wieder einwickeln!

Tränen verschleierten ihren Blick. Gleichzeitig wütete ein Schmerz in ihr, der sie zu zerreißen drohte.

„Raus aus meinem Bett!“ Mit einem Ruck riss sich Karsten die Decke weg, trommelte wie irre auf seine Brust. „Raus. Sofort! Ich könnte dich umbringen, du Lügner!“

„Was hast du denn?“ Noch leicht verschlafen richtete sich Karsten auf. „Bettina, Liebling, was ist denn los?“

„Was los ist? Das, was immer mit dir los ist: Du lügst und betrügst. Du bist der krasseste Egoist, den man sich nur vorstellen kann.“

Irritiert schüttelte Karsten den Kopf. „Ich weiß wirklich nicht, was jetzt in dich gefahren ist.“ Er versuchte ihre Hände zu fassen, doch Bettina zog sie mit einem Ruck zurück. „Lass mich allein.“ Ihre Stimme, eben noch wütend und ein bisschen schrill, war jetzt nur noch ein Hauch. Tränen schwangen darin mit. „Lass mich bitte, bitte jetzt allein.“

„Aber ich … was wirfst du mir denn vor?“ Karsten stand auf und zog sich halb an. Die Smokinghose lag auf dem Boden, war ebenso verknittert wie das Hemd. Doch das war jetzt unwichtig. „Warum bist du so wütend auf mich?“

„Warum? Das fragst du nicht im Ernst!“ Sie war wunderschön, wie sie da auf dem Bettrand saß. Das Haar lockte sich um ihr erhitztes Gesicht, die Augen, die ihn vor wenigen Stunden noch voller Zärtlichkeit angeschaut hatten, glühten jetzt.

Karsten umfasste die schlanke Gestalt – und am liebsten hätte er Bettina jetzt wieder geliebt. Aber das war wohl illusorisch. So, wie sie drauf war, glich sie einem Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Wenn er doch nur wüsste, was plötzlich in sie gefahren war!

„Sag mal, nimmst du Drogen?“ Der Satz war ausgesprochen. Scheiße, schoss es ihm durch den Kopf, damit machst du alles nur noch schlimmer!

„Was sagst du da?“ Wirklich, ihre Wut war noch steigerungsfähig. „Du wagst es, mich mit den Typen zu vergleichen, die du normalerweise im Bett hast? Na ja, eine Elaine bin ich nicht. Und Drogen … nein, die brauche ich nicht, um Gefühle zu zeigen.“

„Aber ich …“

„Sag mir nur eins“, fiel sie ihm ins Wort. „Bist du noch mit Elaine zusammen?“

„Nein, natürlich nicht.“

„Und du hast sie nicht mehr gesehen?“

Er zögerte.

„Sag schon: Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen? Als ihr zusammen Kinderkleidung gekauft habt?“

Karsten atmete auf. „Ach das! Das ist ganz einfach zu erklären. Sie wollte mich doch nur …“

„Ködern. Ich weiß. Mit dem ältesten Trick der Welt. Gratuliere, das ist ihr gelungen. Und jetzt – geh endlich. Ich kann dich nicht mehr ertragen!“

„Aber Bettina, so hör mir doch zu! Das ist doch alles ganz anders und …“

„Ich weiß. Es ist immer ganz anders. Mit jedem deiner Betthäschen. Aber in die Sammlung lass ich mich nicht einreihen, das schaffst du nicht. Auch, wenn du mir das Blaue vom Himmel runter versprichst.“ Sie wies zur Tür. „Und jetzt scher dich raus.“

„Du bist jetzt wohl total durchgeknallt, was?“ Auch Karsten wurde wütend. Warum beschimpfte Bettina ihn auf einmal? Was war los mit ihr? Kopfschüttelnd sah er sie an. „Weißt du, mit hysterischen Weibern hab ich beruflich schon so viel zu tun, da brauch ich so was nicht auch noch privat. Wenn du willst, ruf mich an, wenn du wieder normal bist.“ Sprach’s und ging.

Bettina warf sich in die Kissen und weinte, bis ihre Augen brannten. Verdammt, sie war ja so ein Schaf! Verliebt wie mit fünfzehn. Dumm und unreif – und das in den gewissenlosesten Playboy Deutschlands!

Nein, sie machte sich gar nicht klar, wie unsachlich und ungerecht sie war. Sie sah vor ihrem geistigen Auge nur, wie Elaine und Karsten aus der Kindermoden-Boutique kamen. Sie sie lachten und eine Harmonie ausstrahlten, die sie mit ihm nie erlangen würde.

Wie sie sich selbst für die Schwäche hasste, die sie gestern Abend gezeigt hatte! Kaum stand er mit Dackelblick vor ihrer Tür, vergaß sie alles und sank ihm in die Arme. Erbärmlich war das! Verrückt und unentschuldbar!

Diesen ersten Weihnachtstag verbrachte Bettina damit, ihren ganzen Tempotaschentücher-Vorrat aufzubrauchen, Karsten tausendmal zu verfluchen – und heilige Eide zu schwören, diesen Mann in Zukunft zu meiden wie der Teufel das Weihwasser!

Karsten grollte ebenfalls. Mit sich, mit Bettina – und mit allen Lebewesen, die ihm über den Weg liefen.

In seiner Villa waren noch deutliche Spuren der Party zu sehen. Der Tannenbaum stand schief, die alte große Holzpyramide, die schon seiner Großmutter gehört hatte und die er zur Dekoration auf eine kleine Kommode gestellt hatte, war defekt, irgendjemand hatte sich einen Spaß daraus gemacht, die Flügel abzumontieren und stattdessen Tannenzweige einzustecken. Die kleinen Engel, die unten auf der Pyramide standen und ein Konzert bliesen, hatten auf einmal kleine rosa Hörner aus Kaugummi.

„Es tut mir leid, aber so weit konnte ich noch nicht aufräumen“, entschuldigte sich seine Haushälterin. „Und ob da noch was zu retten ist …“

„Es ist meine Schuld. Ich hätte diese Leute nicht einladen sollen. Wann sind die Nowacks denn gegangen?“ Das waren Bekannte aus der Branche. Sie lebten in Mannheim, waren aber der Einladung von Karsten gern gefolgt, da sie Angst vor den Feiertagen hatten. Vor einem halben Jahr war ihre einzige Tochter tödlich verunglückt. Die Vorstellung, ohne sie Weihnachten zu feiern, hatte den Nowacks nicht behagt. Wohl aber auch nicht die wilde, ungezügelte Party, zu der Karstens Einladung ausgeufert war.

„Sie haben sich verabschiedet, gleich nachdem Sie fort waren. Frau Marais ist allerdings hier geblieben. Sie schläft noch.“ Das klang ein bisschen spitz.

„Elaine ist hier?“ Stirnrunzelnd ging Karsten in den Nebentrakt, in dem die Gästezimmer lagen.

„Nein, nein, sie schläft wohl bei – Ihnen. Ich hab sie jedenfalls am frühen Morgen in Ihre Räume gehen sehen.“ Die Haushälterin zuckte mit den Schultern. „Ich wusste ja nicht, ob ich sie aufhalten sollte … Sie haben nichts gesagt, und weil sie doch früher auch …“

„Schon gut. Ich regle das.“

Verdammt! Dieses Biest! Karsten hätte Elaine am liebsten an ihren langen blonden Haaren aus dem Zimmer geschleift, doch er sah ein, dass er sie in ihrem Zustand nicht einfach aus dem Haus weisen konnte. Sie war betrunken – und wahrscheinlich nicht nur das.

Also ließ er sie schlafen, duschte ausgiebig, frühstückte vier Tassen Kaffee – und überlegte krampfhaft, was er tun sollte. Noch mal mit Bettina reden? In Ruhe? Ihr klarmachen, dass er vor einiger Zeit nur ein Geschenk für eine seiner Angestellten gebraucht hatte? Das hatte eigentlich Annette besorgen wollen, doch sie hatte geschäftlich nach Mailand gemusst. Also hatte er sich erboten, die Wickelkommode samt Erstausstattung zu besorgen. Frau Mitterland war eine der Designerinnen, die in den letzten drei Jahren ganz entscheidend zum Erfolg von KORY-Moden beigetragen hatte. Es war nur recht und billig, sie mit einem besonderen Geschenk zur Geburt ihres Kindes zu erfreuen.

Als er Elaine davon erzählte, hatte sie gleich erklärt, dass sie ihn gern begleiten würde. Welch fatale Konsequenzen das hatte – niemand hätte es voraussehen können!

„Ich bin unterwegs!“, rief er der Haushälterin zu. „Richten Sie kein Essen, es kann später werden. Und nehmen Sie sich frei für den Rest des Tages. Aber bitte erst, wenn Elaine Marais das Haus verlassen hat. Wenn es zu lange dauert, schmeißen Sie sich einfach raus.“

Na, der macht es sich einfach!, dachte die Haushälterin, aber sie war entschlossen, diese Anweisung auszuführen. Mit größtem Vergnügen!

+ + +

„Mein Gott, wie siehst du denn aus? Du könntest glatt den Tod im „Jedermann“ spielen.“

„Danke. Sehr aufbauend.“

„Keine Ursache. Schwestern sollten immer ehrlich zueinander sein.“ Kim grinste, doch als sie bemerkte, wie elend es Bettina ging, wurde sie ernst. „Sag mal, wie lange liegst du schon im Bett?“

„Keine Ahnung. Drei Tage vielleicht …“

„Warum hast du mir nichts gesagt? Ich war doch in der Nähe und hätte dir …“

„Lass es“, fiel ihr Bettina ins Wort. „Ich bin gut allein zurecht gekommen. Und ich wollte dir doch nicht deine Weihnachtsferien verderben.“

„Du bist verrückt. Sag mir, wenn dich der Heiligenschein zu sehr drückt.“ Kim öffnete entschlossen das Fenster, ließ die kalte Winterluft ins Zimmer. Forschend sah sie Bettina an. „Wann hast du zum letzten Mal was gegessen?“

„Keine Ahnung …“ Fröstelnd zog Bettina sich die Bettdecke höher. Sie hatte fiebrig glänzende Augen und fühlte sich so schlecht wie nie zuvor.

Kopfschütteln, aber kein Kommentar. Kim sah ein, dass sich ihre große, immer vernünftige Schwester in einem Ausnahmezustand befand. Also ergriff sie die Initiative. Sie machte Ordnung, zwang Bettina, wenigstens eine Suppe zu essen. Sie räumte die Weihnachtsdeko ab und überlegte dabei fieberhaft, wie sie den Jahreswechsel gemeinsam verbringen könnten. Auf keinen Fall sollte das hier in Hamburg passieren, in der Nähe des Mannes, der Bettina so unglücklich gemacht hatte.

Es war nicht allzu schwer gewesen, alles aus Bettina herauszufragen. „Karsten Korten-Ryhoff – ich mach dich fertig!“, schwor sich Kim.

Und als Bettina wieder einmal schlief, das Fieber schwächte sie sehr, griff Kim sich die Wagenschlüssel der Schwester und fuhr zu den KORY-Werken.

„Der Chef ist nicht im Haus“, erklärte der Pförtner. „Wir sind nur die Notbesetzung über die Feiertage hinweg.“

„Und wo finde ich Herrn Korten-Ryhoff? Es ist sehr wichtig.“

„Das sagen sie alle.“ Der Portier, seit etlichen Jahren im Dienst, war so leicht nicht aus der Ruhe zu bringen. Und die großen, bittenden Augen der jungen Frau vor ihm beeindruckten ihn auch nicht mehr.

Kim beugte sich vor. „Ich bin nicht „alle“! Und schon gar nicht gehöre ich zu dem Heer von Verehrerinnen des feinen Herrn. Also – wo treibt er sich rum?“

„Keine Ahnung. Tut mir leid.“

„Und mir erst!“ Kims Augen blitzten. Aber dann hatte sie eine Idee: Gleich gegenüber des Firmengeländes gab es ein Bistro – vielleicht erfuhr sie hier mehr. Und sie hatte Glück: Einer der jungen Kellner wusste:

„Der Chef von drüben ist Reiter. Ich hab ihn schon mal in dem Stall gesehen, in dem meine Schwester als Pferdepflegerin jobbt.“

„Heute haben Sie ihn aber nicht gesehen?“

„Nein … aber ich hab meine Schicht auch erst vor einer halben Stunde angetreten. Moment mal …“ Er war beeindruckt von Kim und höchst bestrebt, ihr zu helfen. Nach einem kleinen Wortwechsel mit einem Kollegen meinte er: „Vor zwei Stunden hat mein Kollege ihn gesehen. In Reithosen.“

„Na also!“ Kim strahlte ihn an. „Danke! Sie sind klasse!“

Der junge Kellner zuckte mit den Schultern. Für das Kompliment konnte er sich nichts kaufen. Ihm wäre lieber gewesen, Kim wäre noch eine Weile im Lokal sitzen geblieben.

„Glück ist mit die Doofen“, murmelte Kim vor sich hin und grinste, als sie zu ihrem Wagen ging. Da hatte sie ja schneller herausgefunden, was sie wissen wollte, als gedacht. Zumindest war es einen Versuch wert.

Bis zu dem Reitstall war es gar nicht weit.

Nur wenige Wagen parkten auf dem Kopfsteinpflaster-Hof. Sicher war die Limousine in dezentem dunkelblau die des Firmenchefs! „Seriös nach außen, innen ein Mistkerl. Das passt!“

Oh ja, Kim war geladen. Und sie steigerte sich noch ein wenig in ihren Zorn hinein, bis sie Karsten ausfindig gemacht hatte. Was leider nicht einfach war, denn ein älterer Stallknecht erklärte ihr, dass Herr Korten-Ryhoff ausgeritten sei.

„Ein bisschen leichtsinnig mit dem Wotan“, fügte er hinzu.

„Mit wem?“

„Wotan. Das ist der Hengst vom Karsten. Er hat ihn schon als Junge bekommen.“

„Na, dann ist der Hengst ja uralt.“

Der Stallknecht schüttelte den Kopf. „Das schon, aber immer noch voller Temperament. Und in der letzten Zeit ist er furchtbar schreckhaft geworden. Weiß der Geier, was er hat.“

Das fragte sich auch Karsten. Eine gute Viertelstunde ritt er durch einen Wald, auf der Galoppstrecke kannten sich Pferd und Reiter aus, wie von selbst fiel Wotan in die schnelle Gangart. Aber dann, kaum dass sie den Birkenwald verlassen hatten und auf ein Feld kamen, auf dem die Wintergerste spross, begann der Hengst zu tänzeln.

Karsten wollte ihn zügeln, wollte vom Feld weg auf den schmalen Weg, der am Seitenrand entlang in Richtung Elbe führte. Das war zwar kein ausgewiesener Reitweg, aber gerade das war ihm recht. Nur ja jetzt keinem Bekannten begegnen und eventuell Smalltalk machen müssen!

Auf einmal knackte es im Unterholz – vier Rehe sprangen aufgescheucht aus dem Wald hinüber zum Feld, wo sie irritiert stehen blieben und sich nach einem Schutz umschauten.

Das alles registrierte Karsten noch. Er versuchte, Wotan durchzuparieren, er sprach beruhigend auf den Hengst ein, der aber preschte erst im gestreckten Galopp einige hundert Meter weiter, dann stieg er – und Karsten konnte sich nicht mehr im Sattel halten.

Instinktiv zog er die Füße aus den Steigbügeln, versuchte abzurollen – doch den Stein, der aus einer hohen Erdkrume ragte, sah er nicht. Als er fiel, stürzte er unglücklich auf diesen Gesteinsbrocken. In der nächsten Sekunde wurde es dunkel um ihn.

Wotan war wie wahnsinnig. Nie würde man herausfinden, warum der Hengst so durchgedreht war – jedenfalls kehrte er erst eine gute halbe Stunde später auf den Reiterhof zurück – völlig verschwitzt, mit zitternden Flanken und wild rollenden Augen.

Alarmiert rief der alte Pferdeknecht ein paar Leute zusammen. „Da ist was passiert“, meinte er und wies auf das Pferd, das Schaum vorm Maul hatte. „Pit, du reibst Wotan trocken und führst ihn in seine Box. Sieh nach, ob er verletzt ist. Wir anderen suchen Herrn Korten-Ryhoff.“

„Du wie?“ Ein junges Mädchen, im eleganten Reitdress, sah sich unsicher um.

„Na, indem du dein Pferd nimmst und ein paar Strecken abreitest“, gab ein älterer Herr zur Antwort. „Ich reite in Richtung Elbe, Ulli und Bert nach Westen.“ Kurz und präzise gab er Anweisungen.

„Handys … wer hat sein Handy dabei?“, rief Kim dazwischen. Sie, die nicht reiten konnte, fühlte sich ausgegrenzt und hilflos.

Zwei Männer und das elegante Mädchen meldeten sich. Man tauschte die Nummern aus, dann zerstreuten sich die Reiter.

„Und was soll ich jetzt tun?“ Stirnrunzelnd sah Kim sich um.

„Da steht mein Rad. Nimm’s und such auch“, schlug der alte Stallknecht vor. Er selbst sah nach Wotan, der von seinem jungen Kollegen inzwischen versorgt worden war.

„Er hat nix“, meinte der Junge. „Ich hab alles nachgesehen.“

„Komisch … na, wir werden vorsichtshalber den Tierarzt anrufen.“

„Ein Notarzt wär sinnvoller – wenn man Herrn Korten-Ryhoff findet.“

„Da haste mal ausnahmsweise recht.“

Kim schnappte sich ohne weitere Diskussionen den alten Drahtesel. Himmel, auf so einem vorsintflutlichen Gefährt hatte sie noch nie gesessen! Aber sie kam voran, radelte ein Waldstück entlang, bemerkte im Westen ein paar Reiter, die ebenfalls vergeblich nach Karsten Ausschau hielten.

Sie war noch keine zehn Minuten unterwegs – da sah sie ihn! „Ach du Scheiße!“ Das war nicht damenhaft, entsprach aber ihrem Gefühl. Das Rad fiel unbeachtet zu Boden, schon kniete Kim neben dem Mann. Er hielt die Augen geschlossen, reagierte auch nicht, als sie ihn ansprach. Aus einer kleinen Wunde an der Schläfe sickerte Blut. Kim tastete nach seinem Puls – das sah man zumindest immer im Fernsehen, also konnte es nicht falsch sein. Nur – wie schnell durfte er sein? Was hatte dieses unregelmäßige Stolpern, das sie festzustellen meinte, zu bedeuten?

Mit zitternden Fingern holte sie ihr Handy heraus, wählte die Stallnummer, die ihr Pit gegeben hatte. Mit wenigen Worten war die Situation geschildert.

„Ich hab den Notarzt schon alarmiert. Wo genau seid ihr?“

„Gute Frage. Keine Ahnung …“ Kim sah sich um. „An einem Feldrand. Wenn ich nach links sehe, kann ich einen hohen Backsteinturm erkennen.“

„Dann weiß ich, wo es ist.“ Pit, gerade mal siebzehn Jahre alt, bewies viel Nervenstärke. „Lass den Verletzten liegen. Nicht bewegen, klar?“

„Sicher. Weiß ich doch.“ Kim biss sich auf die Lippen. Was sollte sie nur tun? Sie nahm Karstens Hand, hielt sie fest. Dann beugte sie sich wieder über ihn, um zu kontrollieren, ob er überhaupt noch atmete.

Endlich erklang das Sirenengeheul des Notarzt-Wagens. Kim wusste jetzt, was es bedeutete, wenn man sagte, dass sich Sekunden zu Ewigkeiten dehnen konnten!

Ein weiterer Blick auf Karsten Korten-Ryhoff – wie lange war er schon bewusstlos? Wie lange hockte sie schon neben ihm? Wenn es nicht so schrecklich wäre, zur Untätigkeit verdammt zu sein!

Erst als sich Notarzt und Sanitäter über den Reiter beugten, als eine erste Untersuchung vorgenommen worden war und der Notarzt eine Infusion anlegte – da erst fiel Kim ein, dass sie Bettina informieren sollte.

Schon hatte sie die Nummer angewählt – und stellte das Gerät schnell wieder aus. Bettina war selbst nicht gesund, wie sollte sie Karsten helfen?

„Wollen Sie mitfahren?“ Die Stimme des Notarztes riss sie aus ihren Gedanken.

„Wie? – Ja … nein …“

„Was denn jetzt?“

„Ja.“ Sie kletterte in den Notarztwagen. „Wohin bringen Sie ihn?“

„Uniklinik.“

„Und – was fehlt ihm?“

Der Notarzt sah sie zögernd an. „Sind Sie seine Freundin? Oder mit ihm verwandt?“

„Das nicht, aber … meine Schwester … Sie und er …“ Nie zuvor hatte Kim so gestottert.

„Er hat wohl eine Gehirnerschütterung. Innere Verletzungen will ich ausschließen.“

„Und das Blut?“

„Nicht von Belang. Eine oberflächliche Wunde. Die kann man schnell klammern.“

„Er muss also nicht – sterben?“

Der erfahrene Arzt gestattete sich ein verstohlenes Lächeln. „So schnell stirbt’s sich nicht.“ Er legte kurz seine Hand auf ihre zitternden Finger. „Machen Sie sich keine Sorgen, soweit ich es beurteilen kann, kommt er mit einem Brummschädel davon.“

So eine Erleichterung! Kim fühlte sich, als würde ihr ein Felsbrocken vom Herzen fallen. Aber da fuhr der Arzt fort:

„Genaues wird man in der Klinik sagen können. Ich denke, die Kollegen dort werden eine CT anfertigen, um genau sagen zu können, was los ist.“ Er sah wieder auf seinen Patienten. Die tiefe Bewusstlosigkeit gefiel ihm zwar nicht, war aber auch nichts Ungewöhnliches bei einem so schweren Sturz und der daraus resultierenden Gehirnerschütterung. Nach Ansicht des Notarztes hatte der Reiter Glück im Unglück gehabt.

+ + +

„Wo ist er? Ich will sofort zu Karsten!“ Elaine tobte durch die Villa, warf ein paar Bodenvasen um und versuchte die schweren Vorhänge im Salon zur Erde zu ziehen.

Das war zuviel! Die Haushälterin, nicht gerade zimperlich, rief zunächst mal die Polizei. Den beiden erfahrenen Streifenpolizisten genügte ein Blick auf die junge Frau.

„Total zugedröhnt“, kommentierte der Jüngere.

„Ab mit ihr zum Entzug.“

Nein, lange fackelte man nicht mit solchen Typen. Und diese abgedrehten, gelangweilten reichen Dämchen schmeckten den Beamten sowieso. Als hätten sie nicht schon genug zu tun!

So landete Elaine also wieder einmal in einer Klinik, und so sehr sie auch nach Karsten schrie oder weinte – er kam nicht, um ihr zu helfen.

Karsten lag inzwischen schon zwei Tage ohne Bewusstsein in der Uniklinik – ein Zustand, der den behandelnden Ärzten inzwischen Sorge bereitete. Man hatte ihn mit allen modernen Untersuchungsmethoden durchgecheckt – und ein Blutgerinnsel im Gehirn festgestellt. Noch aber zögerten die Ärzte, den Patienten zu operieren. Ein solcher Eingriff war nicht ungefährlich, und manchmal lösten sich solche Gerinnsel auch von selbst wieder auf.

Doch bei Karsten war das nicht der Fall, und so beschlossen die Mediziner am Abend des zweiten Tages eine Notoperation, da sich der Zustand des Patienten verschlechtert hatte.

Da Karsten Korten-Ryhoff keine nahen Verwandten mehr besaß, wurde seine engste Mitarbeiterin informiert. Annette Berger war von Kim informiert worden und sofort, zusammen mit Andreas Fabian, in die Klinik gefahren.

Andreas, in der Uni-Klinik bestens bekannt, erfuhr natürlich alle Details und gab sie – wenn auch gefiltert – weiter. Das Arztgeheimnis wollte auch er wahren, doch er war sicher, dass es in Karstens Sinn war, dass Annette auf dem Laufenden gehalten wurde. Schließlich musste sie sich nun wieder hundertprozentig um die Firma kümmern.

Kim brachte Bettina schonend bei, was geschehen war.

Die Fotografin hatte kein Fieber mehr, fühlte sich aber noch elend und schlapp. Sie lag im Bett und wirkte teilnahmslos, als Kim zum dritten Mal innerhalb der zwei Tage aus der Klinik kam.

Sie setzte sich ans Bett, nahm Bettinas Hände und hielt sie fest. „Ich muss dir was sagen …“

„Hmm.“

„Tina, hör mir zu!“

„Tu ich ja.“

„Karsten ist verunglückt.“ Kim beschloss, es gar nicht erst vorsichtig zu umschreiben. Wahrscheinlich war es besser, der Schwester einen Schock zu versetzen, das würde sie aus ihrer Lethargie aufrütteln.

„Aha.“ Nur dieses kleine Wörtchen. Es war zum Aus-der-Haut-fahren! Kim rüttelte die Schwester leicht.

„Sag mal, hast du’s mit den Ohren? Ich hab gesagt, dass Karsten verunglückt ist. Er liegt in der Uni-Klinik und wird wohl in diesem Moment operiert.“

„Was?“ Ruckartig setzte sich Bettina auf.

„Er hatte einen Reitunfall und …“

„Wann?“

„Vorgestern. Ich hab mit ihm reden wollen und bin …“

Aber Bettina ließ sie nicht ausreden. „Was fehlt ihm? Warum wird er operiert?“ Ihre Augen spiegelten ihre Angst wider.

„Er hat … eine Gehirnerschütterung.“ Nein, mehr wollte sie nicht sagen. Bettina sah so entsetzlich blass aus, dass Kim Angst hatte, ihr den wahren Zustand des Mannes zu gestehen. Womöglich erlitt Bettina noch einen Zusammenbruch – elend genug ging es ihr schließlich.

„Gehirnerschütterung. Aha.“ Langsam ließ sie sich in die Kissen zurückfallen.

„Es ist eine schwere Gehirnerschütterung, sagen die Ärzte. Ich hab diese Frau Berger angerufen. Du hast doch gesagt, dass sie immer alles managt. Und weil er doch keine Familie hat und du nicht gut dran warst …“ Kim biss sich auf die Lippen. Verflixt, wieso reagierte Bettina so merkwürdig? Kim hatte gedacht, die Schwester würde jetzt aufstehen, sich frisch machen und sie, Kim, bitten, sie zur Klinik zu fahren.

Stattdessen lag sie wie erstarrt da, nachdem sie diese Infos hatte, und machte nicht die geringsten Anstalten, sich zu Karsten zu bewegen.

„Du hast mir zugehört, ja?“ Kim beugte sich über die Schwester.

„Ja.“

„Und – was willst du jetzt tun?“

„Nichts. Bin ich sein Arzt?“

Ja, Himmel noch mal, spinnst du jetzt total? Du bist die Frau, die Karsten liebt. Glaub ich zumindest. Und dass du ihn liebst, ist sowieso klar. Also mach dich fertig und fahr in die Uni-Klinik. Er wird da wohl gerade operiert.“

„Warum?“ Immer noch dieses starre Benehmen! Es war zum wahnsinnig werden!

„Weil er …“ Kim biss sich auf die Lippen. Aber es musste wohl sein, Bettina musste die ganze Wahrheit erfahren! „Er hat ein Blutgerinnsel im Kopf. Das drückt auf die Hirnhaut. So hab ich es wenigstens verstanden. Sie müssen dieses Gerinnsel wegoperieren.“

„Aha.“ Keine andere Reaktion.

Kim stand auf. „Ich fass es nicht“, murmelte sie. „Da hast du dir vor einigen Tagen noch die Augen aus dem Kopf geheult wegen Karsten – und jetzt tust du so, als interessierte dich das gar nicht.“

„Tut’s ja auch nicht.“

„Das kannst du deiner Großmutter erzählen!“ Kim war wütend. „Stell dich nicht so dämlich an und steh endlich auf. Ich geh mir jetzt einen Döner essen. Hab seit Stunden nichts in den Magen gekriegt. Außerdem muss ich mich mal wieder mit meinen Freunden zusammentelefonieren. Die denken glatt, ich sei vom Weihnachtsmann mitgenommen worden. Wenn ich wiederkomme, bist du fertig und wir fahren in die Klinik. Klar?“

Keine Reaktion.

Als Kim die Wohnung verließ, fiel die Tür mit einem heftigen Knall hinter ihr ins Schloss.

Bettina biss sich auf die Lippen, bis sie Blut schmeckt. Nein, sie würde nicht aufstehen! Sie würde nicht in die Klinik fahren. Sie würde sich nicht kümmern. Sie würde …

Aufstehen, duschen, in Hose und einen leichten Pulli schlüpfen und ein Taxi rufen – das alles passierte innerhalb kürzester Zeit.

Bettina dachte gar nicht mehr nach, sie handelte ganz mechanisch. In ihrem Kopf war nur noch ein Gedanke: Karsten ist schwer krank. Er wird operiert. Sie schneiden seinen Kopf auf …

Himmel, warum hatte sie Kim nicht sofort gebeten, sie in die Uni-Klinik zu bringen? Jetzt musste sie noch elend lange auf ein Taxi warten!

Es war dunkel, und gerade als der Wagen auf das Gelände der Uni-Klinik einbog, begann es zu regnen. „Mistwetter“, schimpfte der Taxifahrer. „Da kriegen sie hier wieder jede Menge Arbeit.“

Bettina nickte nur, zahlte und lief die wenigen Meter bis zum Eingang durch den Regen, der von einzelnen wässrigen Schneeflocken durchsetzt war. Sekundenlang dachte sie daran, wie schön es gewesen war, mit Karsten am Strand von Faro zu liegen. Sie erinnerte sich an ihre erste Begegnung in New York – wobei sie zugeben musste, dass sie ihn da gar nicht richtig wahrgenommen hatte. In Paris aber war er ihr aufgefallen! Sie hatte ihn ekelhaft gefunden … zumindest hatte sie sich eingeredet, er sei ein Ekel. Ihr Herz aber hatte es schon besser gewusst!

An der Rezeption erklärte man ihr: „Herr Korten-Ryhoff liegt zurzeit auf der Intensivstation. Gehen Sie dort den Gang hinunter, dann mit dem Lift zur dritten Etage … dann müssen Sie läuten, der Intensiv-Bereich ist nicht für jedermann zugänglich.“

„Danke.“

Bettina hastete über den Flur, der zu dieser späten Stunde fast leer war. Die meisten Patienten waren über die Feiertage entlassen worden, nur die schweren Fälle mussten bleiben. Besucher waren schon vor Stunden gegangen.

Nie zuvor war sie auf einer Intensivstation gewesen, doch aus unzähligen Fernsehserien und Dokumentationen wusste sie, dass hier sterile Kleidung Vorschrift war und die Patienten an unzählige Apparate angeschlossen waren, die ihre Lebensfunktionen registrierten.

Die Pflegerin, die ihr öffnete, war Mitte Vierzig. Graues, kurz geschnittenes Haar, kluge dunkle Augen, ein schmales Gesicht mit einer etwas zu großen Nase … all das bemerkte Bettina auf den ersten Blick. Aber auch der mitleidige Ausdruck in ihren Augen fiel ihr auf, als sie sagte: „Ich würde gern Herrn Korten-Ryhoff besuchen.“

„Tut mir leid, aber das ist im Moment nicht möglich.“

„Aber … ich muss zu ihm!“ Bettina sah die Intensiv-Pflegerin bittend an.

„Er … er wird gerade operiert.“

Bettina biss sich auf die Lippen. „Ich weiß. Aber … kann ich nicht warten, bis er wieder hier ist?“

„Drüben ist ein kleiner Wartebereich. Setzen Sie sich dorthin. Ich bringe Ihnen Kaffee. Oder lieber Tee?“

„Kaffee … gern. Danke.“

Und dann saß sie in einem kleinen schmucklosen Raum. Wartete. Hoffte. Bangte um Karstens Leben.

Wieso dauerte das so lange? Und warum sagte man ihr nicht Bescheid? Gern hätte sie die Schwester gefragt, doch die war ganz offensichtlich im Stress. Bettina hatte schon zweimal mitbekommen, wie bei einem Patienten Alarm ausgelöst wurde, dann sah sie einen Arzt zu der abgetrennten Abteilung laufen.

Zu ihr, in dem kleinen Warteraum, kam niemand …

Endlich, nach fast zwei Stunden, erschien eine junge Ärztin. „Sie warten darauf, zu Herrn Korten-Ryhoff zu können, hörte ich.“ Ein kleines Lächeln, dann die erlösenden Worte: „Alles ist gut gegangen. Kommen Sie mit, Sie brauchen einen sterilen Kittel, dann können Sie ihn kurz sehen.“

„Danke … Vielen Dank!“ Bettina wunderte sich nicht, dass sie zu Karsten durfte, obwohl sie doch gar nicht verwandt waren. Sie ahnte nicht, dass Dr. Fabian dafür gesorgt hatte, dass sie zu dem Patienten gelassen wurde.

„Wenn eine Frau Gehrmann ihn sehen möchte – lassen Sie sie zu ihm“, hatte er die Kollegen gebeten. Und seiner Autorität mochte niemand widersprechen.

So konnte Bettina also zu dem geliebten Mann!

Nein, nicht weinen. Dafür war gar keine Zeit. Sie musste der Ärztin folgen. Die führte sie in eine der vielen Kabinen der Intensivstation, nachdem Bettina sich den sterilen Kittel übergeworfen hatte.

„Zehn Minuten. Nicht länger“, mahnte die Ärztin. „Der Patient braucht Ruhe.“

„Ja … Danke.“

Vorsichtig setzte sie sich auf den Stuhl, der dicht neben dem Bett stand. Wie blass Karsten war! Der Kopfverband irritierte sie kaum, doch die wächserne Blässe … sie passte so gar nicht zu Karsten. Er wirkte plötzlich schwach und verletzlich.

Vorsichtig, so, als hätte sie Angst ihm weh zu tun, griff sie nach seiner rechten Hand. In der linken steckten noch Kanülen. Aus einer Infusion tropfte irgendetwas in seine Venen. Die Monitore zeigten grüne, leicht unregelmäßige Linien, ein paar Geräte zischten und brummten.

Es war eine bedrückende Atmosphäre, doch Bettina zwang sich, das alles zu ignorieren. Sie sah nur Karsten. Seine Augen, die sie vor einigen Tagen noch so voller Liebe angeschaut hatten, waren geschlossen. Die Nase wirkte spitz, und zwei Linien, die zuvor nicht da gewesen waren, zogen sich von der Nase bis hinunter zu den Mundwinkeln.

„Liebe, lieber Karsten! Was machst du nur? Fällst einfach vom Pferd … dabei hast du mir erzählt, du wärst ein exzellenter Reiter. Du, ich hab solche Angst gehabt, als ich von dem Unfall hörte. Und … ich weiß erst jetzt, wie sehr ich dich liebe.“ Sie beugte sich noch ein wenig weiter vor, die Worte waren nur noch ein Flüstern. „Ich hab dich immer geliebt, von Anfang an. Aber ich hab mich dagegen gewehrt. Schließlich passen wir doch gar nicht zueinander – du, der Sonnyboy mit großem Besitz, ich die unbekannte Fotografin, die froh ist, wenn sie mal wieder einen interessanten Auftrag ergattert hat.“ Sanft streichelte sie ihm über die Wange. „Weißt du noch, wie ich dir gesagt hab, dass ich den Katalog für KORY-Moden nur mache, weil auf meinem Konto Ebbe herrscht? Du hast geantwortet, dass du dir wünschst, es wäre immer so …“

Hatte er sich bewegt? Hatten seine Finger in ihrer Hand gezuckt? Bettina war unsicher, wieder sah sie auf die verschiedenen Apparate, doch was sie anzeigten, sagte ihr nicht viel.

Eine Schwester kam, kontrollierte die Infusion.

„Wie … wie geht es ihm?“

„Gut – den Umständen entsprechend. Ich denke, er kommt in der nächsten Stunde wieder zu sich und ist ansprechbar.“

Die gleiche Erklärung gab ihr drei Stunden später auch ein Arzt. Doch Karsten kam nicht wieder zu sich. Bettina blieb lange bei ihm, so lange, bis eine der Schwestern sie mit sanfter Gewalt drängte, heimzufahren.

„Sie müssen sich ausruhen. Seit fast zehn Stunden sitzen Sie jetzt hier. Das geht an die Substanz.“

„Aber …“

„Ruhen Sie sich aus. Versuchen Sie zu schlafen. Wenn Sie dann wiederkommen, ist Herr Korten-Ryhoff sicher ansprechbar.“

Wie gern hätte sie der Schwester widersprochen! Aber sie sah ein, dass sie ihrem Körper eine Ruhepause gönnen musste. Jeder Muskel tat weh, sie hatte total falsch gesessen.

„Sie sagen mir doch Bescheid, wenn sich in seinem Befinden etwas ändert? Auch wenn wir nicht verwandt sind und ich …“

„Natürlich. Der Chef hat entsprechende Anweisungen gegeben.“ Die Schwester hastete weiter. Auf Intensiv hatte niemand lange Zeit zum Plaudern.

Am nächsten Tag war Karsten immer noch nicht wach geworden.

„Machen Sie sich keine allzu großen Sorgen“, erklärte ihr ein junger Intensivmediziner. „Das kommt nach solchen Eingriffen schon mal vor.“ Er bemühte sich, gelassen zu wirken, doch Bettina glaubte ihm nicht.

Und so setzte sie sich wieder an Karstens Bett, hielt stundenlang seine Hand und sprach leise auf ihn ein. Sie erzählte von ihren gemeinsamen Erlebnissen, von den schönen Stunden am Meer, von ihrem Weihnachtsfest …

„ich war noch nie so glücklich wie in dieser Nacht“, sagte sie leise und zog seine Hand an die Lippen. „Und ich weiß, dass ich ohne dich nie mehr glücklich sein kann.“

Keine Reaktion.

Am Abend, draußen peitschte ein heftiger Sturm Eisregen gegen die Fensterscheiben, begannen die Kontrollgeräte zu piepsen. Erst zuckte Bettina zusammen, aber dann erklärte eine Schwester:

„Jetzt wird er wach … schauen Sie nur … gleich …“

„Ich muss weg.“ Bettina war schon an der Tür.

„Aber nein! Ihnen ist es doch zum großen Teil zu verdanken, dass er wieder bei uns ist. Sie haben …“

In diesem Moment klingelte es, eine der Pflegerinnen öffnete – und dann rollte sie in einem Rollstuhl in die Kabine: Elaine!

„Mein Liebling!“ Sie sah schlecht aus. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, ihre Hände, Krallen ähnlich, zitterten, als sie sie jetzt auf Karstens Brust legte. „Was tust du mir an?“ Jetzt weinte sie unterdrückt. Weder Bettina noch die junge Schwester schien sie zu bemerken.

Der Pfleger, der ihre Rollstuhl geschoben hatte, zuckte leicht mit den Schultern. „Sie hat die Ärzte verrückt gemacht. Irgendjemand hat es geschafft, sie auf der Psychiatrischen anzurufen und hat ihr erzählt, dass ihr Freund verunglückt ist. Seither konnte man sie kaum bändigen.“

„Das ist ja ein Ding!“ Die Intensivschwester schüttelte den Kopf. „Wie konnte das passieren?“

„Keine Ahnung. Ich persönlich vermute, dass sich da jemand ein dickes Trinkgeld verdient und ihr ein Handy eingeschmuggelt hat.“ Holger Schäfer log, ohne mit der Wimper zu zucken. Er selbst war es gewesen, der den Fünfhunderter von Elaines Freundin Gloria entgegengenommen hatte. Und er war, gegen einen weiteren Schein, auch bereit, das schöne Model heimlich aus der Psychiatrie hinüber zur Chirurgie zu fahren. Gefährlich war sie ja nicht, die schöne Frau. Nur ziemlich daneben. Zu viel Kokain, zu viel Alkohol, zu viele Tabletten, welche auch immer. Ihm sollte es egal sein. Sie ruinierten sich ja fast alle, diese Typen.

Holger war nicht gerade eine Zierde seines Berufs. Skrupel kannte er kaum, und wenn es um Geld ging, ließ er nur zu gern fünf gerade sein.

Wenn die schöne Elaine zu ihrem Lover wollte – kein Problem. Er besorgte einen Rollstuhl, flößte ihr einen sanften Beruhigungscocktail ein, der in erster Linie dazu da war, unauffällig mit ihr durch die Gegend zu rollen, dann machten sie sich auf den Weg.

Das alle bekam Bettina nur wie durch einen Schleier mit. Sie sah, dass Elaine sich weiter über Karsten beugte, und er … er öffnete in diesem Moment die Augen und sagte leise: „Du bist da …“

Nein, ein Schlag ins Gesicht hätte nicht weher tun können! Mit einem Ruck drehte sich Bettina um und stürzte aus der Kabine.

Fort. Weg von hier. Nur dieser Gedanke beherrschte sie.

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